Der Roman

Der Roman BORYSTHENES verbindet einen Ausschnitt europäischer Geschichte mit dem Mythos der Landschaft, in der sie sich abspielt: dem Tal des Dnjepr.

Erzählt wird die Geschichte einer Kreuzfahrt auf dem Dnjepr im Jahr 2003. Das Buch beschreibt die Ukraine als ein Land, das sich aus der bolschewistischen Umklammerung befreit hat und auf seine mehrtausendjährige Geschichte besinnt: Als griechische Kolonie, römischer Verbannungsort für Christen, Wiege der Rus, Hinterland der Schwarzmeerpiraten, Tummelfeld der Kosaken, Angriffsziel der Krim-Tataren und Austragungsort des Zweiten Weltkriegs. Obwohl Melanie, das alter ego der Autorin, ursprünglich der Frage nachging, wie stark die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg die Kinder jener Soldaten, die diesen Krieg nach Osten trugen, als transgenerationales Trauma geprägt hat, ist die Perspektive dieses Reiseromans optimistisch, denn Melanie erlebte eine Gesellschaft im Aufbruch.

Borysthenes – Landschaft und Trauma: Die ukrainische Wunde

Neuauflage 2022 von Sybil Wagener

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Allerdings hat in der Zwischenzeit die Weltgeschichte eine neue Wendung genommen. Der russisch-ukrainische Krieg zerreisst, was länger und verbindlicher zusammengehört als z. B. der 1991 aufgekündigte sozialistische Staatenbund.

Die enge Verflechtung der ukrainischen mit der russischen Geschichte ist auf eine geographische Vorgabe zurückzuführen: Das Urstromtal des Dnjepr und seine Einmündung in das Schwarze Meer ist ein unveränderlicher Handlungsraum, der nicht nur das Leben, sondern auch das Bewusstsein der Menschen prägt, indem er sie in eine Abhängigkeit von der Natur zwingt, die nur als Mythos begreifbar ist – ungeachtet der Überpräsenz der Technik und deren eigenen Projektionen. Während ihrer Reise versucht Melanie, Worte für die Erschütterung zu finden, die dieses Naturphänomen in ihr auslöst.

Der Dnjepr markiert die Grenze zwischen Mittel- und Osteuropa, zwischen bestelltem und wildem Land, er schlägt, wenn man von Westen kommt, einen neuen topografischen Ton an: Endlosigkeit. Er gleicht in nichts unseren mitteleuropäischen Flüssen, die zwischen enge Ufer gebettet sind und einem Tal einen besonderen Akzent verleihen. Hier ist der Strom die Landschaft: gigantische Wassermassen in unaufhaltsamer Bewegung. Auf der Karte sieht er wie der Körper einer vollgefressenen blauen Kobra aus. Es ist das Umland, das der Fluss sich einverleibt hat. Auch dort, wo er nicht zu riesigen Seen angestaut ist, nimmt er, verbreitert durch zahllose Inseln und Sandbänke, gigantischen Raum ein.

Der Dnieper bei Kiew
Der Dnjepr bei Kiev.
Foto: Mehmet TORUN (mesaj), Dnieper, Kyiv Oblast 2017, CC BY-SA 4.0

Vom Ufer aus gesehen ist er selbst an seinen schmalsten Stellen gewaltig; ein natürliches Hindernis für einfallende Armeen. Er wurde zu einem dieser Eroberungsmythen, die in Kriegszeiten Feldherrn und Soldaten beflügeln. Hitler stellte sich vor, dass der Krieg gewonnen wäre, sobald die Wehrmacht den Fluss überschritten hätte. Stalin befahl, die Dnepr-Linie um jeden Preis zu halten. Kiev war von elf sowjetischen Divisionen verteidigt worden. Die Deutschen hatten es zum Schein belagert, um ihren wirklichen Plan zu verbergen. Hoch im Norden und tief im Süden sollten ihre Panzerarmeen über den Dnjepr gehen und die sowjetischen Truppen einschließen.

S.38

S.38

Der Dnjepr-Mythos wurde der Roten Armee zum Verhängnis. Große Truppenteile wurden eingeschlossen und bombardiert. Melanie entzieht sich der Erinnerung an die Kriegsgreuel, die sich am Ufer ereignet haben, indem sie sich auf die Bewegung des Schiffes konzentriert.

Die Borysthenes glitt über eine bleisilberne Wasserfläche, die in der Ferne von dunklen Linien begrenzt war. Manchmal kamen die Ufer näher, oder es war eine Insel, die sich näherte, in den sandigen Buchten waren Gestalten zu erkennen, die badeten oder Feuer unterhielten. Hinter den unbebauten Ufern und verfilzten Gehölzen stellte sie sich die endlose Steppe vor, die vom Dnjepr bis zum Ural reicht. Sie lehnte sich über die Reling und starrte ins Wasser, das unter der blinkenden Oberfläche tiefschwarz erschien. Den Fluss tagelang mit einem Schiff zu befahren, hatte sie sich als einen Prozess der Entgrenzung vorgestellt, der vielleicht damit enden würde, dass sie das Wesen dieser Landschaft begriff, doch jetzt fühlte sie sich wie eine unbeteiligte Zuschauerin. Es war zu viel Technik zwischen ihr und der Natur, das Vibrieren der Motoren verhinderte die Symbiose. Sie hätte gern mit den Anglern getauscht, die in ihren winzigen Booten hockend das Schiff ignorierten. Was wie eine Zwiesprache von Geist und Wasser aussah, konnte aber auch ein böser Zauber sein, denn alle Schnüre hingen schlaff, in Sichtweite schwamm und sprang kein Fisch.

S.53
Kreuzfahrt auf dem Dnjepr mit der 
"Borysthenes"
Kreuzfahrt auf dem Dnjepr. Abendstimmumg auf der „Borysthenes“

Saporoshje

Die erste Station der Kreuzfahrt rief bei Melanie eigene Erinnerungen hervor. Urlaubende Soldaten werden von den Familien selbstverständlich ins Verhör genommen.

Melanie sah die Zipfel der Tischdecke, die Stuhlbeine und die blankgeputzten Stiefel ihres Vaters deutlich vor sich. Kindern, die auf dem Fußboden in ihr Spiel vertieft zu sein scheinen, entgeht kein Wort von der Unterhaltung der Erwachsenen, auch wenn sie den Zusammenhang nicht verstehen. Sie merken sich Wörter, die häufig vorkommen, und solche, die mit besonderer Betonung ausgesprochen werden. Ein Wort, für das beides zutraf – Häufigkeit und Emphase – war Saporoshje. Was für ein weicher, zärtlich klingender Name für eine Stadt, die spröder nicht sein könnte! Wohnblocks aus grauem, bröckelndem Beton entlang einer doppelspurigen Rollbahn, dem Lenin-Prospekt. Vernachlässigte, unkrautüberwucherte Grünflächen, die nicht städtebaulicher Luxus sind, sondern Steppenreste. Die Weitläufigkeit sozialistischen Bauens erschien ihr einmal mehr als ein Ausdruck der Rücksichtslosigkeit gegenüber den Menschen, deren restliche Kraft nach Feierabend durch lange Wege vollends erschöpft werden soll. Friedrich Engels hatte das revolutionäre Potential der verdichteten Wohnquartiere in den Industriestädten hervorgehoben, wo die Arbeiter so eng beieinander wohnen, dass sie sich in ihrer Nachbarschaft verschwören können. Dies scheint vom sozialistischen Wohnungsbau mit seinen isolierten Wohntürmen und versteppten Freiflächen absichtsvoll unterlaufen zu werden. Nirgendwo auch nur ein Busch, geschweige denn eine schattenspendende Baumgruppe oder eine Bank zum Ausruhen.

S. 57

Das Kraftwerk

In Saporoshje legte die Borysthenes an, um den Besuch des Kosakenmuseums zu ermöglichen. Teresa, die Reiseleiterin, kommentierte den Rundgang entlang der Vitrinen. Melanie, die zu ungeduldig war, um Vorträge anzuhören, separierte sich, indem sie entweder ein paar Schritte zurück blieb oder bis zur nächsten Vitrine voran ging. Eine Einlassung in der Wand fiel ihr auf, ein niedriger Torbogen, hinter dem das Licht geheimnisvoll schimmerte. Als Teresa einen Moment abgelenkt war, schlüpfte sie hinein.

Der Durchgang öffnete sich auf ein beleuchtetes, halbrundes Panorama-Gemälde. Voll realistischer Details und leicht entzifferbarer Botschaften, zeigte es die Baustelle des Kraftwerks als brodelnde, rauchende, dampfende Hexenküche der Technik. Die Staumauer ist aus dem Hintergrund rechts, wo sie klein und fern erschien, perspektivisch gestaucht nach vorn geführt und als moderner Turmbau zu Babel vor den Himmel gesetzt worden. Gestaffelte Gerüste, halbfertige Bauabschnitte über gähnender Tiefe erzeugten die Illusion von Raum. Von einer frisch betonierten Plattform zu Füßen des Betrachters aus fiel der Blick in das trockengelegte Flussbett des Dnjepr, aus dem mystische Dampfschwaden stiegen. Um die Kräne und Lokomotiven wimmelten winzige Menschen. Alles wirkte heiter und leicht. Die Arbeiter, ob sie nun Rohre verlegten, Pfähle einrammten, Lasten trugen, Kräne entluden, bewegten sich mit der Eleganz von Tänzern. In der Bildmitte bildeten Frauen mit Schaufeln einen durchkomponierten Halbkreis, in den hinein eine eiserne Wanne mit Beton von einem Kran abgeseilt wurde. Sie waren, mit kurzen, eng anliegenden Röcken über den Stiefeln, mit verlockenden Rundungen gemalt. Arbeit ist Eros, lautete die Botschaft. In Wirklichkeit war es Schwerstarbeit unter mörderischen Bedingungen..Aber das Ziel wurde erreicht: 1932 ging das Kraftwerk ans Netz.

S.59
Kraftwert in Saparoschje
Die Baustelle als Panoramagemälde im Kosakenmuseum in Saporoshje

Hier am Unterlauf des Dnjepr hatte das neue Russland begonnen, dem Stalin verordnet hatte, in einem Jahrzehnt nachzuholen, wozu der Westen mehr als ein Jahrhundert Zeit gehabt hatte – die Industrialisierung. Für die kommunistischen Visionäre wurde die Sowjetrepublik Ukraine, mit der Wasserkraft ihrer Flüsse und ihren Bodenschätzen, den Manganerzgruben von Nikopol, dem Eisenerzbergbau von Kriwoj-Rog, den Kohlenbecken und Eisenrevieren des Donez, zum Gelobten Land des Fortschritts.

S. 59

Mit dem Mythos vom Aufbau einer Gesellschaft der gerechten Verteilung hat Stalin das Prinzip der Fronarbeit aus dem System der Leibeigenschaft in das System der Parteidiktatur überführt.

Bei Saporoshje entstand ein Stausee, unter dessen Wassermassen auch die seit der Antike berühmt-berüchtigten dreizehn Stromschnellen verschwanden, die Katharinas Flotille auf dem Weg zum Schwarzen Meer hatte überwinden müssen. Die Fama vergisst sie nicht. Sie symbolisieren das von der Moderne geforderte Natur-Opfer.

In der Vorhalle, wo sich gerade eine Schulklasse versammelte, sprach Melanie die Reiseleiterin auf das Panorama an.

„Das ist Heimatkunde mit einem Vorwort und einem Nachwort aus Moskau. Die Museumsführung für die Kinder von Saporoshje beginnt mit der Industrialisierung der Ukraine, die im Bau des Kraftwerks kulminiert und endet mit dem Sieg über den Faschismus. Dazwischen werden sie an Vitrinen mit goldschimmernden Grabbeilagen entlang geführt und hören vom Königtum der Skythen. Dolche, Sättel, Fellmützen, Pluderhosen sind das Anschauungsmaterial für die Geschichte der Saporosher Sec, der legendären Kosakengesellschaft. So lernen sie immerhin, dass ihre Vorfahren Skythen und Kosaken waren und die ukrainische Geschichte nicht in Moskau geschrieben wurde – was bis vor kurzem noch die offizielle Lehrmeinung war“. Melanie fühlte, dass es dazu noch mehr zu sagen gäbe. Was die Kinder nicht lernten, fragte sie. „Dass sie freie Menschen sind.

S.58/59

Kosaken

Mythos Freiheit… In der nächsten bunt bemalten, theatralisch ausgeleuchteten Panoramahöhle standen sie vor einer dramatischen Szene: Unter drohend zusammengeballten Wolkenformationen schwingt ein Mann mit Schnauzbart, Turban und Pluderhosen auf einem Podest gebieterisch ein Szepter. Seine Herrschaft scheint bedroht zu sein, denn um das Podest herum tobt in den Kostümen von 1001 Nacht eine mit Knüppeln und Stangen bewaffnete Menschenmenge. Auch realistische Gemälde erklären sich nicht immer von selbst. „Wo, glauben Sie, spielt diese Szene sich ab?“ befragte Teresa ihre Zuhörer. „Im Orient“, antwortete einer. „Auf der Krim“, ein anderer. „In der Saporosher Sec“. Das war der kleine Mann mit der Schirmmütze, der sich immer auf Deutsch zu Wort meldete. „Was Sie hier vor sich sehen“, sagte Teresa aufgeregt, „ist die Absetzung eines Anführers durch das Volk. Die Sec war so etwas wie eine demokratische Modellgesellschaft. Freie Männer – nichts anderes bedeutet das Wort Kosak: freier Mann – haben sich unter freiem Himmel versammelt, um ihren Hetman zu wählen oder, wie in diesem Fall, abzuwählen. Rechts im Bild wartet, umgeben von Würdenträgern, gelassen der neue Kandidat. Gewählt von den Untertanen, abwählbar durch die Untertanen. Im 16. Jahrhundert gab es hier in der Ukraine schon ein freies Wahlrecht“. – „Gestatten Sie, dass ich Ihnen widerspreche“, sagte der kleine Mann. „Das war nicht Demokratie, das war Anarchie. Ein zusammengewürfelter Haufen von Deserteuren und davongelaufenen Bauern im Grenzgebiet zwischen den Staaten. Eine Art Wilder Westen im Niedrigwald der tausend Inseln.“ Teresa warf den Kopf in den Nacken. „Sie waren Christen! Orthodoxe! Todfeinde der Goldenen Horde!“ – „Sie waren“, entgegnete der Kritiker, „Räuber und Piraten. Mit ihren kleinen Booten sind sie ins Schwarze Meer hinaus gerudert und wie Piranhaschwärme über jedes Handelsschiff hergefallen, das ihren Weg kreuzte. Ihre Grausamkeit war legendär. Gefangene haben sie nicht gemacht. Frauen wurden vergewaltigt und ermordet. Kinder wurden in die Sklaverei verkauft. Die erbeuteten Kleider und Waffen haben sie als Trophäen getragen. Ihre Freiheit war ein ganzjähriger blutrünstiger Karneval“. Auf Teresas Wangenknochen zeichneten sich rote Flecken ab. „Sie haben dem Dschihad der Muslime ihren Heiligen Krieg entgegengestellt…Heute repräsentieren die Kosaken mehr als jede andere Bevölkerungsgruppe die freie Ukraine. Sie sind die Hoffnungsträger unserer Unabhängigkeit“. – „Da sei Gott vor“, murmelte der kleine Mann.

S.62/63
Panoramagemälde im Kosakenmuseum in Saporoshje: Der Rat der Militärkosaken

Das Kosakentum war Melanie bisher als eine Art Folklore erschienen, als liebevolle Pflege überkommener Bräuche, vergleichbar den bayerischen Trachtenvereinen… Nun wurde sie mit einem ukrainischen Bevölkerungsanteil konfrontiert, dessen Wurzeln quasi prähistorisch sind, entstanden in einem Siedlungs-Vakuum, in der offenen Steppe, wo sich keine festen Institutionen entwickeln konnten, wo alles Lebenswichtige beweglich sein, jeder einzelne ersetzbar bleiben musste und nur die Identifizierung mit der Rotte das Überleben sicherte. Das generiert eine andere Mentalität als ein Dasein im Schutz von Mauern und Regelwerken; das meint Freiheit als offenen Horizont ohne alle Schranken; das setzt aber auch die Verbindlichkeit von Absprachen voraus, da nichts anderes den sozialen Zusammenhalt ausmacht. Melanie glaubte zu begreifen, dass es das kosakische Erbe war, auf das Stalin setzte, als er die Erste und die Zweite Ukrainische Armee an der Spitze der Roten Armee ihr eigenes Land freikämpfen ließ.

Mythos und Realität

Nachmittags, als die Mehrzahl der Passagiere zur ‚Kosakenshow‘ aufbrach, rollte Melanie ihren Badeanzug in ein Handtuch und überquerte die Fußgängerbrücke, um von der Uferstraße aus zum Strand zu gelangen. Der Fluss war hier unterhalb der Staumauer zweigeteilt, er umfloss eine große Insel und war auch als Arm noch breiter als der Rhein bei Karlsruhe… Der weiße, feinkörnige, saubere Sand war so heiß, dass sie sich die Fußsohlen verbrannte. Sie ließ sich auf ihr Handtuch fallen und schlüpfte in die Schuhe. In der kurzen Zeit, die sie brauchte, um sich mit ihrer UV-Schutzcreme einzureiben, wurde ihr die Sonne schon unerträglich – im September! Ihr fiel auf, dass die Badenden alle in Ufernähe blieben, deshalb prüfte sie die Wasseroberfläche erst mit den Augen, ob sie strömte oder strudelte, bevor sie in den Fluss watete. Unvergleichlich ist das Gefühl, einzutauchen und getragen zu werden, zu versinken, ohne unterzugehen… Es war ja nicht irgendein Fluss, in den Melanie stieg, es war der Dnjepr. Sie erwartete nichts weniger als die Symbiose mit einem Mythos. Die Fruchtbarkeitsgöttin der Griechen und Skythen, die Freiheitsgarantie der Kosaken, die Herausforderung der Ingenieure, die blaue Ziellinie Hitlers, die Bastion Stalins, die Hoffnung der Soldaten – all das war der Dnjepr. Auf dem Rücken liegend wollte Melanie sich treiben lassen und sich eins fühlen mit dem Element, das die Kraft hat, sich von allem zu reinigen: Blut, Trümmern, Dynamit. Das Ufer war flach, das Waten unter der aggressiven Sonne mühsam. Sobald das Wasser knietief war, ließ sie sich fallen. Halb schwimmend, halb kriechend gelangte sie an tiefere Stellen. Etwas streifte Beine und Bauch – Wasserpflanzen. Nicht die zart streichelnden Blätter wie in den Flüssen ihrer Kindheit, sondern hartes, knotiges, verzweigtes Gestrüpp. Zwei, drei weitere Schläge, und Melanie war mitten in einem Unterwasserwald. Das Gefühl, sich freistrampeln zu müssen, wurde so zwingend, dass sie umkehrte. Nun entdeckte sie auch kleine schwarze Partikel auf der Wasseroberfläche und war endgültig ernüchtert. Das Bad im großen Strom hatte, zumindest in diesem Teil, nichts Großartiges. Er floss nicht frei, er war gefesselt, und wer weiß, was sich hier staute: kontaminierter Schlamm aus Tschernobyl, Schwermetalle und lösliche Gifte aus den Industriezentren am Oberlauf, Verbrennungsrückstände aus der Nachbarschaft, Abwässer der Satellitenstädte. Sie paddelte, kroch und watete zum Ufer zurück, dort musste sie sich der Sonne aussetzen, um ihre Turnschuhe anzuziehen; ihre Haut brannte, als sie endlich das überdachte Häuschen erreichte. Den Berichten ihrer Tischgenossen über die Reitkünste der Kosaken („wie im Zirkus“, lobte Magda) hatte sie nur fünf Worte entgegenzusetzen: „Ich war im Dnjepr schwimmen“. Niemand mass dem eine Bedeutung bei.

S. 68