Borysthenes / Dnjepr Mythos eines Flusses

Dieses Buch unternimmt den Versuch, einen Ausschnitt europäischer Geschichte mit dem Mythos der Landschaft zu verknüpfen, in der sie sich abspielt: dem Tal des Dnjepr.

Der Name BORYSTHENES für den Fluss DNJEPR taucht zum erstenmal in Herodots Historien auf, die im 5. Jahrhundert v. Chr. entstanden sind.

Zwei Münzen aus Pontic Olbia (3.-1. Jahrhundert v. Chr.), die den bärtigen Kopf des Flussgottes Borysthenes darstellen
Zwei Münzen aus Pontic Olbia (3.-1. Jahrhundert v. Chr.), die den bärtigen Kopf des Flussgottes Borysthenes darstellen

Auch der Franzose Louis Philippe de Ségure gebraucht ihn für den Dnjepr, den er über tausend Jahre später als französischer Botschafter im Rahmen der Taurischen Reise der Zarin Katharina II. bereist. Ich verwende ihn als Titel eines Buches, das der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg gewidmet ist, den die Deutschen 1939 mit dem Überfall auf die damalige Sowjetunion vom Zaun brachen. Landschaft und Trauma wurden identisch.

Grenzfluss Borysthenes

Der Dnepr, Grenzfluss zwischen West- und Osteuropa, hatte für beide Seiten, über die strategische Bedeutung hinaus, eine mythische Aura. Sieg oder Niederlage schienen von ihm abzuhängen. Ihn zu überschreiten, eröffnete Hitlers Generalen die Aussicht auf scheinbar unbehinderte Eroberung: Die Weite Russlands schien ungeschützt vor ihnen zu liegen. Mit dem festen Glauben an die Unüberschreitbarkeit des Flusses verlor die Rote Armee ihre ersten Schlachten, und die Wehrmacht zuletzt den Krieg. Der Mythos, auf den die Menschen bauten, erwies sich als Täuschung. Die Landschaft wurde zum Trauma.

Dass die Menschen jemals sesshaft waren, ist zu bezweifeln. Nicht grundlos steht am Anfang aller Weltdeutung das Paradies als ein Zustand der Mühelosigkeit. Und am Ende wird, hat man die Mühsal hinter sich gebracht, wiederum das große Ausruhen versprochen; bis in alle Ewigkeit. Dazwischen nichts als Aufbrüche: die Suche nach fruchtbarerem Boden, wärmerem Klima, verfügbarem Wasser. Die Geschichte der Menschen ist eine Folge von Kriegen, die einen Rahmen haben: die Natur. Sie ist stärker; sie hilft den Menschen nicht; sie bleibt bei sich. Wer etwas Nachhaltiges über Geschichte aussagen will, muss es unter Einbeziehung der Schauplätze tun.

Schon der älteste Historiker Europas, Herodot, hat 400 Jahre vor Christus Studien betrieben, die Flüsse, Steppen, Wüsten und Meere als Voraussetzung von Geschichte mit einbezogen. Eine Landschaft wie das Urstromtal des Dnjepr kommt nur Menschen entgegen, die sich ihr nicht ausliefern, wie die Skythen, deren Beweglichkeit in der unendlichen Steppe Herodot rühmt.

Der zweite Autor, der sich über tausend Jahre später schriftlich mit dem Dnjepr befasste, war Graf Louis Philippe de Ségur. Er nahm als Botschafter Frankreichs an der „Taurischen Reise“ Katharinas II. (1778) teil und kommentierte seine Eindrücke in einem tendenziell modernen Journal. Der Dnjepr beeindruckte ihn als Phänomen. Als „majestätisch“ empfand er ihn, aber nicht als bedrohlich. Im 18. Jahrhundert lernten die Menschen, ihr Ausgeliefertsein an die Natur zu berechnen und die Verknüpfung von Landschaft und Trauma zu entmystifizieren.

Borysthenes – Landschaft und Trauma: Die ukrainische Wunde

Neuauflage 2022 von Sybil Wagener

Verlag: Das literarische Drehbuch
Karl-Marx-Allee 141, 10243 Berlin
Tel. +49 (0) 179 531 03 27
Mail: verlag@das-literarische-drehbuch.de

Als dritte Zeugin tritt die Autorin auf, die sich zu einem Zeitpunkt auf dem Djnepr einschiffte, als „alles gut“ zu werden schien (2003): Die Sowjetunion hatte sich aufgelöst, die ehemaligen Satellitenstaaten, unter anderen die Ukraine, erlebten zwar Mord und Totschlag zwecks Verhinderung freier Wahlen, doch die junge Generation schien sich nicht einschüchtern zu lassen und ging auf die Straße.

BORYSTHENES ist aus den Tagebuch-Notizen jener Kreuzfahrt hervorgegangen; allerdings als Roman, nicht als Reportage.